Frühling unter dem Magnolienbaum

Johannes Stingl studiert an der OTH in Amberg.
Die OTH ist die Ostbayerische Technische Hochschule.
Johannes hat für ein Projekt ein langes Gespräch mit Holger geführt.
Dann hat Johannes die Geschichte von Holger aufgeschrieben.
Hier kommt der Text von Johannes Stingl:

Ein paar Sekunden Unachtsamkeit und das ganze Leben gerät in Schieflage. Erfolg und Karriere spielen auf einmal keine Rolle mehr. Das Einzige, was zählt, ist überleben. Holger erfuhr am eigenen Leib, wie es ist komplett allein gelassen zu werden, und schaffte es, auch in den aussichtslosen Situationen nie die Hoffnung zu verlieren. Heute ist er froh, dass seine Fahrbahn nicht immer kurvenlos und eben war.


Winter 2010 – In der besinnlichen Zeit, in der Menschen eifrig nach Weihnachtsgeschenken suchen, der Plätzchenduft aus den Fenstern der Wohnungen strömt und die von Schnee eingehüllte Innenstadt im Lichterglanz scheint. Genau in dieser Zeit sind die Nächte rau und kalt. Während andere warm eingehüllt in Decken dem Knistern des Feuers lauschen, liegt Holger bedeckt von Schnee auf einer Parkbank. Kein Passant sieht seine Not. Die Augenlider von Holger werden immer
schwerer, der Puls langsamer. „Da rüttelt es mich plötzlich. Und da dachte ich, ich sehe einen Engel über mir. Ich dachte, ich bin im Himmel angekommen. Doch der blonde Engel hatte eine Polizeiuniform an.“

41 000 Menschen leben nach der letzten Schätzung der Bundeszentrale für politische Bildung ohne jede Unterkunft auf der Straße. Hauptgrund dafür sind Miet- und Energieschulden. Holger geriet im Lauf seiner 49 Lebensjahre zwei Mal in die Obdachlosigkeit, was bei seinem anfänglichen Werdegangnicht abzusehen war.

Der gebürtige Zwickauer entscheidet sich nach einem überdurchschnittlichen Abitur für ein Medizinstudium. Lieber wäre er auf eine Hotelfachschule gegangen. Doch vielen DDR-Hotels bleiben nach der Wende die Gäste aus und sein Vater sieht keine Zukunft in diesem Gewerbe. Im Studium setzt Holger sich das erste Mal mit Religion auseinander. Er will wissen, wieso Menschen im Alter sterben und der Zellerneuerungsprozess stoppt. „Ich habe gesucht und gesucht, aber ich habe keine
Antworten auf meine Fragen gefunden. Auf alle diese Fragen konnte mir die Bibel Antwort gegeben.”
Der Kirchgang gehört seitdem zu einem festen Bestandteil seines Lebens. Holger strebt im Studium wie auch schon in seiner Schulzeit nach Glanzleistungen, gehört zu den Besten seines Studiengangs.

Der Winter
Das ändert sich schlagartig nach einem schweren Autounfall. Holger überschlägt sich drei Mal und muss aus dem Auto herausgeschnitten werden. Die äußerlichen Wunden verheilen, die psychischen Folgen bleiben. Seit diesem Zeitpunkt hat Holger eine soziale Phobie und Angst in der Nähe von zu vielen Menschen. „Ich habe Angst davor, dass irgendjemand austickt oder aggressiv wird. Jedes Tier, egal ob Maus, Katze oder Schlange, ist berechenbar. Menschen sind es nicht.” Nach fast vier Jahren
Studium muss Holger einen Schlussstrich ziehen. Seine Ängste beeinträchtigen ihn während der Klausuren sehr stark. Die meisten Prüfungen besteht er nicht. Holger macht Urlaub im Kloster, um sich religiös weiterzubilden. Aus Tagen werden Wochen und aus Wochen Monate, sodass Holger schlussendlich ein dreiviertel Jahr bleibt. Er genießt die Ruhe. „Man ist wie in so einer Käseglocke von der Hektik der Welt abgeschnitten.” Der gesundheitliche Zustand seiner Eltern verschlechtert sich
und Holger entscheidet sich seine Zeit im Kloster zu beenden. Er möchte für seine Eltern da sein. Fünf Jahre pflegt Holger seine Eltern, bis sie kurz aufeinander sterben. Holger steht jetzt allein da. Er kann die Miete nicht mehr zahlen und wird nach kurzer Zeit aus dem Haus geworfen.

Holger ist obdachlos. Er findet fürs Erste Unterschlupf in einem Wohnheim. Nach einem Jahr bewegen ihn die schlechte Hygiene und der Diebstahl dazu weiterzuziehen. Er findet Arbeit und Unterschlupf bei einem Milchbauern. Ein Lichtblick? Eher nicht. Seine Unterkunft ist immer noch schäbig und kalt. Geld für seine Arbeit sieht er nie und das Essen fällt nur sehr hager aus. „Eine Wassersuppe habe ich gekriegt, drei Nudeln waren drin – ich habe sie gezählt.” Was Holger anfangs nicht weiß: Der Bauer betrügt ihn. Der Landwirt lässt den Stromzähler des Stalls über Holgers kleine Hütte laufen. Als der Betrug auffliegt, bröckelt das Verhältnis zwischen Holger und dem Bauern immer weiter. Holger wird schlussendlich aus seiner Wohnung ausgesperrt. Nur mit dem, was er am
Leib hat, steht er nach drei Monaten bei dem Bauern wieder auf der Straße. Jeder Versuch, an Hilfe zu kommen, ist erfolglos: Holger verbringt den Winter auf der Straße. Er flüchtet sich ins Trinken, doch die Wärme, die der Alkohol spendet, ist nicht langanhaltend. Seinen letzten Anker, den Glauben, verliert er nie. „Was mir Kraft gegeben hat, ist die Tatsache, dass wir nur eine bestimmte Zeitspanne auf Erden sind und dass das Leben eine Prüfung fürs Himmelreich ist.” Er bastelt sich
immer wieder ein Kruzifix aus Stöckchen, die er im Park findet, um zu beten. „Ich glaube sehr an die Jungfrau Maria und an ihre heilende Kraft. Als es so kalt war, habe ich zu ihr gebetet, dass ich nicht krank werden möge.” Kurz vor dem Kältetod wird er von einer Polizistin gerettet.

Der Frühling
Sie nimmt ihn mit auf die Wache und sorgt dafür, dass er auf einem anderen Bauernhof unterkommt. Die Bäuerin gewährt Holger Asyl und päppelt ihn wieder auf. „Drei bis vier Tage habe ich nur gegessen und geschlafen. Und ich habe mal wieder die Dusche benutzt, das war das Schönste!” Holger arbeitet für die Familie und bekommt Essen, Trinken und Taschengeld. Diese Familie lässt ihn wieder an das Gute im Menschen glauben.
Um seine Alkoholsucht und die Ängste in den Griff zu bekommen, geht Holger nach drei Monaten in eine Klinik. Dort entdeckt er Videospiele für sich und taucht in eine Parallelwelt ab, die er nicht mehr verlassen will. Einer der Therapeuten schafft es ihm die Schönheit der realen Welt zu zeigen und holt ihn so aus seiner fiktionalen Welt ab. Das erste Ausflugsziel nach draußen ist der ein paar Meter entfernte Magnolienbaum im Klinikgarten. „Der war so schön, da bin ich immer wieder raus.” Holger blüht auf. Ab diesen Zeitpunkt hat seine Therapie immer mehr Erfolg. Nach und nach traut er sich immer mehr am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Der Sommer
Nachdem seine Therapie im Klinikum abgeschlossen ist, entschließt er sich in die sozialtherapeutische Einrichtung „Haus Rabenholz“ zu ziehen. Eine eigene Wohnung kommt für ihn nicht in Frage. Soziale Kontakte sind für ihn wichtig. Holger setzt sich im Haus Rabenholz für seine Mitbewohner ein und wird zum Bewohnervertreter gewählt, der er heute immer noch ist. Er entdeckt das Kochen für sich und erfreut sich daran, seine Liebe fürs Detail ausleben zu können. Holger geht ebenfalls seinem neuen großen Hobby, den Fremdsprachen, nach und arbeitet beim Hausmeister.

Bild von Holger Junghans

Holgers Anker
Trotz der Zweifel in den Tiefphasen seines Lebens ist Holger auch heute noch zutiefst religiös. „Damals dachte ich, Gott hätte mich verlassen.“ Die schwierigen Zeiten sieht er rückblickend als Prüfung und Menschen, die ihn gerettet haben, als Wunder Gottes an. Wenn er an seine Vergangenheit zurückdenkt, ist es sein Glaube, der ihn am Leben gehalten hat. Die Religion begleitet Holger täglich und er ist auf der Suche nach einem geeigneten Bibelkreis.
Mit seiner Vergangenheit hat Holger heute abgeschlossen, er schaut lieber in die Zukunft. Er ist froh, kein Arzt geworden zu sein. Ihm ging es nie wie den meisten seiner Kommilitonen um Ansehen oder Geld. „Der Mensch rückt da immer mehr in den Hintergrund. Es ist schon merkwürdig, wenn man im ersten Semester sagen kann, wie viel man später mal verdient, wenn man seinem Patienten nur die
Hand drückt.”

Die Begeisterung für Hotels bleibt und er beschäftigt sich gerne mit der
Hotelgeschichte.
Für Holger ist es besonders wichtig, den Augenblick zu genießen. Das Leben kann sich von den einen auf den anderen Tag um 180 Grad drehen. Intelligenz, ein Studium oder ein gutes Herz spielen dann keine Rolle mehr. Holger hat das am eigenen Leib erfahren und kann die schönen Momente dafür umso mehr schätzen. Heute genießt er die glücklichen Momente zusammen mit seiner Frau, die er
im Haus Rabenholz kennengelernt und geheiratet hat. Mit ihr zusammen möchte er gerne noch viel von der Welt sehen und arbeitet voller Vorfreude auf seine nächsten Reisen hin.

Die Geschichte von Holger, erzählt von Johannes Stingl.

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